Wie lässt sich Diversität, Chancengerechtigkeit und Inclusion (DE&I) tatsächlich durch Recruiting fördern?
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Damals und heute – wo stehen wir?
Seit Jahrzehnten versuchen Unternehmen, Diversität durch Recruiting zu stärken. Etwa Mitte der 1990er-Jahre begannen Unternehmen (zunächst in den USA, dann auch in Europa), Diversity-Initiativen als geschäftliche Notwendigkeit einzuführen – getrieben durch Marktdruck und den Wunsch, wettbewerbsfähig zu bleiben. Wo stehen wir heute? Und wo sollten Unternehmen ansetzen, wenn sie DE&I gezielt stärken wollen?
Der zunehmende Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) im Recruiting hat dieser Diskussion eine neue Dimension verliehen. KI-gestützte Tools werden mittlerweile häufig für Screenings von Bewerbungen, Lebenslaufanalysen und sogar erste Interviews eingesetzt. Damit steigt sowohl das Potenzial für positive Veränderungen als auch das Risiko unbeabsichtigter Verzerrungen und potenzieller Diskriminierung. Laut einem Bericht des World Economic Forum 2025 nutzen 69% der Organisationen KI im Recruiting zur Effizienzsteigerung – gleichzeitig zeigen Studien, dass algorithmische Verzerrungen zu diskriminierenden Auswahlprozessen nach Geschlecht, Hautfarbe und Persönlichkeitstyp führen können.
Sowohl Forschungsergebnisse als auch unsere eigene Beratungserfahrung zeigen: Recruiting ist meist der erste Ansatzpunkt für Unternehmen, die Diversität erhöhen wollen. Gleichzeitig bestehen nach wie vor geschlechtsspezifische Verzerrungen im Auswahlprozess – Frauen werden bei gleicher Qualifikation strenger beurteilt als Männer. In der Schweiz ist gut dokumentiert, dass Frauen weiterhin Benachteiligungen am Arbeitsmarkt erfahren. Ein Experiment zeigt beispielsweise, dass Frauen in männerdominierten Berufen eine „Strafquote“ von 7 % erleiden, während sich in frauendominierten Bereichen das gegenteilige Muster für Männer ergibt.
Warum Recruiting das Tor zu echtem DE&I-Fortschritt ist
Viele Unternehmen, die uns mit dem Ziel ansprechen, Diversität in ihrer Belegschaft zu fördern, beginnen beim Thema Recruiting. Das ist nachvollziehbar. Erstens: Ohne die Einstellung vielfältiger Talente lässt sich Diversität im Unternehmen nicht steigern. Zweitens: Anpassungen im Recruiting wirken (zumindest auf den ersten Blick) vergleichsweise unkompliziert – Talent Acquisition ist ein schneller Hebel im Vergleich zu Bereichen mit weniger Bewegung wie Beförderungen, Unternehmenskultur oder Lohngleichheit. Drittens: Recruiting bietet sichtbare, messbare Fortschritte (z. B. Anteil diverser Neueinstellungen, Erschliessung neuer Talentpools), da Rekrutierungsmassnahmen naturgemäss sehr einfach zu quantifizieren sind. Schliesslich erfordert die Anpassung der Recruiting-Policies nicht sofort tiefgreifende Kulturveränderungen – es ist eine Art Anpassung an der „Front-End“-Schnittstelle.
Jenseits von Quick Fixes
Recruiting steht seit Langem im Zentrum von DE&I-Initiativen, weshalb es eine kaum überschaubare Menge an Ratschlägen gibt: “5 Tips: Ensure Workplace Diversity Through Recruitment,” no, “10 Ways to Enhance Your Diversity Recruiting Strategy,” oder “13 Ways to Improve Your Diversity Recruitment Strategy.” Die Botschaft scheint klar: Recruiting ist der einfachste Einstieg in DE&I.
Doch das ist der falsche Schluss. Eine universelle „One-size-fits-all“-Lösung zur Erhöhung von Diversität im Recruiting gibt es nicht. Zunächst muss jedes Unternehmen seine spezifischen Pain Points identifizieren. Was sagen die Daten? Beispiel: Der Anteil von Frauen im Kader ist niedrig – naheliegend wäre: wir müssen mehr weibliche Führungskräfte einstellen. Doch vielleicht ist das nicht das Hauptproblem. Möglicherweise werden diese Frauen bereits eingestellt, verlassen das Unternehmen jedoch innerhalb von zwei Jahren wieder. Oder es rücken zu wenige Frauen in Nachwuchspositionen nach, die langfristig in Führungsrollen wachsen könnten. Vielleicht werden Frauen überwiegend in Support-Funktionen eingestellt, während technische oder sehr sichtbare Positionen von Frauen unbesetzt bleiben.
Hier hilft unser HSG Diversity Benchmarking: Es zeigt Stärken und Verbesserungspotenziale in Ihren HR-Prozessen – auch im Recruiting. Welche Talente ziehen Sie an, welche nicht? Sie erhalten eine objektive Standortbestimmung – im Vergleich zu Peers, zum Branchendurchschnitt und dem Gesamtdurchschnitt. |
Doch wie inklusiv und fair sind Ihre Recruiting-Prozesse tatsächlich – auf dem Papier und in der Praxis? Beispiel: Recruiter sind geschult im Bias freien Entscheidungen, arbeiten mit klaren Diversity-Zielen für die Longlist-Erstellung und führen strukturierte Erstgespräche. Das genügt aber nicht, wenn Hiring Manager nicht dieselben Best Practices anwenden. Oder: Wenn ein Unternehmen fast ausschliesslich über interne Empfehlungen oder ein enges Alumni-Netzwerk rekrutiert, bleiben selbst bei standardisierten Prozessen vielfältige Talente unentdeckt. Häufig bevorzugen Hiring Manager Kandidat:innen, die ihnen selbst ähneln – das bekannte „Mini-Me“-Phänomen oder Affinitätsbias. Ohne gezielte Steuerung, Zielvorgaben oder einem «comply or explain»-Ansatz setzt sich dieser Kreislauf fort und limitiert die Vielfalt im Talentpool.
Unsere Empfehlungen: Konkrete Schritte für eine inklusive Rekrutierungspraxis
Sobald Sie Ihre Pain Points identifiziert haben, stellt sich die Frage: Welche effektiven und nachhaltigen Massnahmen gibt es, um Recruiting inklusiver zu gestalten und die Chancen vielfältiger Kandidat:innen zu erhöhen? Welche Rolle spielt dabei Künstliche Intelligenz – und welche Risiken birgt sie?
- Stellenanzeigen für diverse Zielgruppen gestalten: Teilzeit- oder flexible Arbeitszeitmodelle erhöhen die Attraktivität für Frauen. Eine Studie mit über 20 Millionen Teilnehmenden zeigt: Unternehmen erhalten bis zu 30 % mehr Bewerbungen, wenn sie Flexibilität explizit kommunizieren. Zudem ist eine klare Definition von Anforderungen entscheidend: In einem Experiment stieg die Zahl qualifizierter Bewerbungen von Frauen für Expert:innenrollen um 20 Prozentpunkte, wenn die Stellenanzeige konkrete Anforderungen enthielt.
- Diversität in Auswahlgremien: Das Mehr-Augen-Prinzip ist wichtig – aber ebenso entscheidend ist die Zusammensetzung der Auswahlpanels. Studien zeigen: Wenn Frauen in Interviewpanels vertreten sind, sinkt der Einfluss unbewusster Vorurteile. Ein diverses Gremium verbessert nicht nur die Candidate Experience, sondern auch die Qualität der Auswahlentscheidungen, da stereotype Annahmen („Think Manager, think male“) abgeschwächt werden.
- Algorithmen sinnvoll einsetzen: Auswahlalgorithmen können helfen, Biases zu reduzieren – gelten jedoch oft als Verstärker menschlicher Vorurteile. Evidenz zeigt, dass geschlechtsneutrale, kompetenz- und persönlichkeitsbasierte Algorithmen Verzerrungen in frühen Phasen verringern können. Aber: Eine geschlechterausgeglichene Shortlist allein führt nicht automatisch zu diverseren Einstellungen. Oft bewerten Algorithmus und Hiring Manager dieselben Kriterien und wählen dadurch ähnliche Kandidat:innen. Wirkliche Fortschritte entstehen nur, wenn Algorithmen menschliche Blind Spots kompensieren.
Chancen und Risiken von KI
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet: Ja, KI kann bestehende Ungleichheiten verstärken – insbesondere, wenn sie nicht sorgfältig entwickelt, überwacht und eingesetzt wird. Die Algorithmen sind nicht fehlerfrei: KI darf nicht die alleinige Entscheidungsinstanz sein, sondern muss menschliches Urteilsvermögen unterstützen. Recruiter müssen geschult werden, Empfehlungen von KI kritisch zu hinterfragen, zu testen und bei Bedarf zu überstimmen.
Fazit: Aktuelle Forschung belegt, dass KI nur dann Diversität im Recruiting fördern kann, wenn sie in eine ganzheitliche DEI-Strategie eingebettet ist. Das erfordert erklärbare KI mit transparenten Entscheidungskriterien, die Verankerung klarer DEI-Schwerpunkte im Unternehmen (statt blosser Quoten) und die Befähigung von HR-Verantwortlichen, Biases aktiv zu erkennen und zu reduzieren. Ohne diesen Rahmen kann KI allein keinen echten Fortschritt in Richtung fairer und inklusiver Recruiting-Prozesse leisten.
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