Zum Hauptinhalt springen
Logo Diversity & Inclusion Platform

Das grosse Sieb – Weshalb die Schweizer Wirtschaft weiblichen Führungsnachwuchs verliert

Dieser Beitrag ist auch in verfügbar.

Der diesjährige Gender Intelligence Report enthüllt: Trotz jahrelanger Bemühungen zur Erhöhung des Frauenanteils sehen die Schweizer Führungsetagen nach wie vor sehr männlich aus. Die Ursachen sind systemisch bedingt. Für echten Wandel müssen wir Haltung und Strukturen verändern, statt versuchen, das Verhalten der Frauen anzupassen. Die gemeinsam von Advance und dem Kompetenzzentrum für Diversity & Inclusion (CCDI) der Universität St.Gallen durchgeführte Studie liefert in ihrer fünften Ausgabe Fakten und Zahlen zur Entwicklung der Geschlechtervielfalt in Schweizer Unternehmen. Der Bericht basiert auf anonymisierten Rohdaten von über 320’000 Angestellten aus 90 Organisationen.

Während die Geschlechterverteilung im Talentpool ausgeglichen ist, bleibt das «Gesicht» der Schweizer Führungsriege sehr männlich. Fakt ist: In unserem Land hat es genügend hochqualifizierte Frauen. 52% aller universitären Masterabschlüsse und 54% der FH-Masterabschlüsse gehen an Frauen. Sie machen bereits 36% aller BWL-Abschlüsse aus, 38% in den Naturwissenschaften und 32% in technischen Disziplinen (Bundesamt für Statistik, 2020/2021). – Doch trotz jahrelanger Bemühungen, die Geschlechtervielfalt in der Wirtschaft zu erhöhen, geht es nur in ganz kleinen Schritten voran. Tatsächlich deuten die jüngsten Entwicklungen gar auf eine Stagnation hin.


Überall dort, wo es um Geld und Macht geht, sind Frauen die Ausnahme
Die aktuellen Zahlen geben zu denken: Während die Geschlechterverteilung unterhalb des Kaders 50–50 beträgt, handelt es sich bei 83% des oberen Kaders und bei 77% des mittleren Kaders in Schweizer Unternehmen um Männer. Der Blick auf die Pipeline-Entwicklung macht nicht viel Hoffnung, dass in naher Zukunft grössere Veränderungen zu erwarten sind. 79% aller Neubesetzungen im oberen Kader sind Männer, ebenso wie 71% der Neuanstellungen in Positionen mit Personalverantwortung. Zum Thema Karriere: 75% aller Beförderungen ins obere Kader gehen an Männer, ebenso wie 71% der Beförderungen ins mittlere und 65% ins untere Kader. Frauen schaffen es kaum über die unterste Kaderstufe hinaus. – Wie kommt es, dass wir keine substanziellere Erhöhung beim Frauenanteil sehen, nachdem sich Unternehmen seit Jahren mit verschiedensten Initiativen dafür einsetzen, mehr Frauen einzustellen, zu befördern und auch zu halten?

Für Frauen gelten andere Spielregeln
Unser System ist noch immer auf traditionelle Geschlechterrollen mit einem (meist männlichen)
Vollzeitverdiener ausgelegt. Gängige Karrieremodelle orientieren sich an diesem «idealen» Mitarbeiter. Daher schaffen es in der Regel nur sie bis ganz nach oben. Frauen tragen eine zusätzliche Bürde, wenn es gilt, die Karriereleiter zu erklimmen. Denn die gesellschaftlichen Rollenerwartungen führen dazu, dass sie nach wie vor den Grossteil an Familien- und Betreuungsarbeit übernehmen. Anders gesagt funktionieren Strukturen, Prozesse und Kultur wie ein grosses Sieb, das Vielfalt und speziell weiblichen Nachwuchs herausfiltert. Dies gilt umso mehr für die höheren Hierarchie-Ebenen.

Ursachen sind systemisch
Aus den Erkenntnissen der letzten Jahre wird deutlich: Die Ursachen der herrschenden Ungleichheiten sind systemischer Natur. Strukturen, Prozesse und Denkweisen sind mehrheitlich auf das stereotyp männliche Modell ausgerichtet. So findet ungefähr die Hälfte aller Beförderungen (47%) im Alter zwischen 31 und 40 Jahren statt, was oft mit den intensivsten Jahren der Familienzeit einhergeht. Da Frauen bis zu 77% aller Aufgaben der Familien- und Betreuungsarbeit übernehmen (Branger, 2019), gewinnen Männer in dieser Zeit gegenüber den Frauen einen markanten Vorsprung und behalten ihn für den Rest ihrer Karriere. Diese «Rush Hour» des Lebens kann daher als Karrierekiller für Frauen und als Karrierebeschleuniger für Männer betrachtet werden. Die
Entwicklungen über die Zeit fördern eine weitere interessante Tatsache zutage: Obwohl es in den letzten Jahren einige Erfolge bei den Beförderungen von Frauen gab, wurden diese durch eine geringere Anzahl weiblicher Kaderrekrutierungen und eine höhere Fluktuationsrate bei Kaderfrauen gegenüber Kadermännern wieder zunichtegemacht. Eine weitere Herausforderung, die Frauen benachteiligt, ist die Tatsache, dass der durchschnittliche Beschäftigungsgrad von Frauen mit 85% tiefer ist als derjenige der Männer mit 96%, wobei Vollzeit in höheren Kaderstufen nach wie vor die Norm ist.

Können wir es uns leisten, bis 2078 zu warten?
Seit 2018 ist der Frauenanteil im Kader um einen einzigen Prozentpunkt gestiegen. Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, wird Geschlechterparität bestenfalls in zwei bis drei Generationen – im Jahr 2078 – Realität. Können wir es uns tatsächlich leisten, bis 2078 zu warten und zehntausende hochqualifizierte Frauen zu verlieren? Derzeit sind schätzungsweise 54'000 Frauen mit Hochschulabschluss nicht Teil des Arbeitsmarkts, die meisten vermutlich aufgrund von Familien- und Betreuungsarbeit (Bundesamt für Statistik, 2021). Am BIP gemessen, könnten in der Schweiz nahezu 190 Milliarden CHF gewonnen werden, wenn die Arbeitsmarktteilnahme der Frauen bis 2025 mit derjenigen der Männer gleichauf wäre (CFR, 2021). Zudem ist es eine bekannte Tatsache, dass Vielfalt Innovation und Produktivität steigert. Aus all diesen Gründen ist es aus wirtschaftlicher Sicht ein ‘Muss’, das enorme weibliche Potenzial besser einzubinden und zur Entfaltung zu bringen – umso mehr angesichts des steigenden Fachkräftemangels.

Für echte Fortschritte müssen wir die Regeln ändern
«Mit ‹weitermachen wie bisher› ist es eindeutig nicht getan», sagt Alkistis Petropaki, Geschäftsführerin bei Advance. «Um echte Resultate zu erzielen, müssen wir die Spielregeln ändern und für alle Beteiligten gleich machen.» Petropaki unterstreicht den Punkt, dass wir «aufhören sollten zu versuchen, die Frauen an das aktuelle System anzupassen. Vielmehr müssen wir bewusst Systemveränderungen herbeiführen, sodass Frauen bzw. alle Geschlechter sich integriert fühlen und die Chance haben, es bis an die Spitze zu schaffen.» Prof. Dr. Gudrun Sander fügt hinzu: «Inklusion ist tatsächlich ein Schlüsselelement – gar der entscheidende Faktor. Deshalb müssen die Regeln der Geschäftswelt neu geschrieben werden. Das beginnt dabei, den Business Case für Inklusion zu definieren. Dazu braucht es eine klare Vision der angestrebten (Inklusions-)Kultur. Zweitens müssen entsprechende Ziele (KPIs) in alle wichtigen Personalprozesse wie Rekrutierung, Beförderungen und Retention integriert sowie der Fortschritt gemessen werden. Dabei gilt es, die Führungskräfte in die Verantwortung zu nehmen. Und zuletzt – und das ist sehr wichtig – müssen Vorgesetzte als gutes Vorbild vorangehen und Inklusion bzw. inklusionsförderndes Verhalten im Umgang mit ihren Mitarbeitenden im Führungsalltag leben.» Eine weitere Empfehlung lautet «Karriere neu definieren», indem aktuelle Führungsnormen infrage gestellt und neue Karrierewege geschaffen werden. Um wirksame, bereits umgesetzte Massnahmen zu zeigen, wurde der Report mit Fallstudien aus fortschrittlichen Advance-Mitgliedunternehmen ergänzt. Entdecken Sie die Best Practices hier.

«The Career Games» – Sensibilisierungskampagne am 14. September lanciert
Was wäre, wenn Kinder nach Erwachsenenregeln spielen würden? Diese Frage inspirierte eine Kampagne, mit der das Bewusstsein für systemische Geschlechterdifferenzen in den «Karrierespielen» von heute geschärft werden soll. Mädchen und Jungen im Alter zwischen 7 und 9 Jahren treten in einem Hindernislauf gegeneinander an. Doch die Regeln der beiden Teams unterscheiden sich. Den Film zur Kampagne sehen Sie hier.

Über den Gender Intelligence Report
Der Advance & HSG Gender Intelligence Report ist die einzige Studie in der Schweiz auf Basis anonymisierter Personal-Rohdaten, die von den teilnehmenden Unternehmen und Organisationen jährlich bereitgestellt werden. Dieser einmalige Datensatz in Kombination mit der wissenschaftlichen Methodik – die Anwendung der gleichen Formel, des gleichen Datentyps und gleichbleibender Indikatoren (KPIs) – ermöglicht objektive, transparente und vergleichbare Ergebnisse. Der Report liefert daher Transparenz zum Fortschritt der Geschlechter-Diversität in der Schweizer Wirtschaft.

Über Advance – Gender Diversity in Business
Advance ist mit rund 130 Unternehmensmitgliedern die führende Organisation in der Schweiz, die sich aktiv für mehr Frauen in Wirtschaftskadern einsetzt. Es ist erwiesen, dass gemischte Teams bessere Entscheidungen treffen, innovativer und meist profitabler sind. Mit einem konkreten Programm unterstützt Advance Unternehmen darin, Diversität in Wettbewerbsvorteile zu übersetzen. Denn Geschlechtervielfalt ist ein Win-Win für Männer, Frauen, Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes. Den aktuellen Überblick über Mitgliedsunternehmen finden Sie hier.

Den vollständigen Report finden Sie hier

Beitrag teilen

Das könnte Sie interessieren

DE&I-Strategieberatung

Die strategische Verankerung von D&I in Ihrer Organisation ist ein wichtiger Pfeiler für Ihren Erfolg mit D&I. Ein essentieller Teil davon sind verbindliche Ziele, an denen dieser Erfolg gemessen werden kann.

St.Gallen Diversity Benchmarking

Die Standortanalyse im Vergleich mit Ihren Peers - als ersten Schritt zur D&I-Strategie.

Ähnliche Beiträge